Er wohnt immer noch ganz in der Nähe. Das Haus von Riccardo Calimani, dem ehemaligen Präsidenten der jüdischen Gemeinde von Venedig, ist ein paar hundert Meter vom Canareggio-Kanal entfernt, an dem auch das Ghetto liegt.
So als wollte er den Kontakt zu seinen Wurzeln, zu seinen Eltern nicht verlieren.
Seine Familie sei arm gewesen, sagt Riccardo Calimani, und habe das Ghetto nie verlassen, selbst als sich dessen Tore Ende des 18. Jahrhunderts öffneten und Juden überall in der Stadt wohnen konnten. Wenn sie es sich leisten konnten. Die Calimanis offenbar nicht. Sie blieben in der kleinen, muffigen Wohnung mit niedrigen Holzdecken und dünnen Wänden. Im Ghetto lebten möglichst viele Menschen auf möglichst engem Raum. Die Palazzi in Venedig haben normalerweise drei, vier Stockwerke, im Ghetto zählt man sieben Etagen. Riccardo Calimani:
"Laut einiger Quellen lebten Mitte des 17. Jahrhunderts 5.000 Juden im Ghetto, auf 9 Quadratmetern pro Person."
Als der Zweite Weltkrieg begann, lebten immerhin noch 1.200 Juden in Venedig, viele von ihnen im Ghetto, wie die Familie Calimani.
"Mein Vater und meine Mutter sind auch 1938 im Ghetto geblieben, als die sogenannten Rassengesetze verabschiedet wurden. Als am 8. September 1943 die Nazis kamen, haben meine Eltern entschieden, gemeinsam zu fliehen. Sie haben acht Tage danach geheiratet, am 16. September 1943, am Tag, an dem sich der Präsident der jüdischen Gemeinde in Venedig umgebracht hat, weil er verstanden hatte, dass die Situation hoffnungslos war."
Die Eltern überlebten, versteckt in den Bergen bei Venedig. Nach dem Krieg kehrten sie in die Stadt zurück. Riccardo kam zur Welt, als erstes Mitglied seiner Familie, das außerhalb des Ghettos geboren wurde. Losgelassen hat den Schriftsteller und Historiker dieser Ort nie.
"Nach dem Krieg lebten noch Juden im Ghetto. Allerdings war die italienische Gemeinde schon immer sehr klein. Und die Gemeinde von Venedig wurde klein. Anfang des 20. Jahrhundert lebten noch 2.000 Juden in Venedig, vor dem zweiten Weltkrieg 1.200.
200 wurden deportiert, nach dem Krieg waren es 1.000, und heute zählt die jüdische Gemeinde in Venedig nur noch 400 Mitglieder."
Unter den Augen christlicher Wächter
Venedig ist eine Insel. Und auf dieser Insel liegt eine weitere kleine Insel: das Ghetto. Komplett von Kanälen umgeben. Wer das Ghetto betritt, muss durch ein Tor. "Hier waren früher richtige Holztore", erzählt Michela Zanon, die Leiterin des Jüdischen Museums von Venedig.
"Sie wurden morgens geöffnet, wenn die 'Marangona' läutete, die Glocke, die die Tischler in der Werft zur Arbeit rief. Und abends wurde sie nach Sonnenuntergang geschlossen. Es gab christliche Wächter, die kontrollierten, dass weder Juden heraus-, noch Christen hineingingen. Es sei denn, es handelte sich um jüdische Ärzte, die nachweisen konnten, dass sie zu einem Kranken gerufen waren."
Die Holztore gibt es nicht mehr. Nur ein Schild über dem Eingang: 'Sotoportego de Gheto Novo.' Durchgang zum Neuen Ghetto. Michela Zanon empfiehlt, noch einen Augenblick vor dem Tor stehen zu bleiben und sich das Ghetto von außen anzusehen.
"Sehen Sie diesen Erker, diesen kleinen weißen Vorsprung? Das ist die Rückseite der Großen Deutschen Synagoge mit dem Toraschrein. Und der rote Vorsprung ist die Rückseite der Synagoge 'Canton'."
Von außen sind die beiden Gotteshäuser als solche nicht zu erkennen. Das war eine der zahlreichen Auflagen bei der Gründung des Ghettos vor 500 Jahren. Bescheiden sollten sie sein die Synagogen, um bei der christlichen Nachbarschaft kein Ärgernis zu erregen. Michela Zanon sagt:
"Die meisten italienischen Synagogen sind nach der Emanzipation gebaut worden: Sie sind sehr imposant, sehr groß, sehr reich. Aber sie haben nicht denselben historischen Wert wie diese hier, die zeigen, wie die Verhältnisse damals waren - sehr versteckt, sehr verschlossen aber sehr wichtig."
Die ältesten Synagogen im Ghetto stammen noch aus der Gründungszeit, sind also beinahe 500 Jahre alt. Sie liegen in Wohnhäusern und sind über das Treppenhaus erreichbar. Die Tür, die Michela Zanon aufsperrt, könnte zu einer ganz normalen Wohnung führen. Doch das, was der Besucher im Innern zu sehen bekommt, ist eine andere Welt.
"Das ist die 'Scola Canton', eine Synagoge des aschkenasischen Ritus oder deutschen Ritus, wie die Venezianer sagten, die alles immer stark vereinfachten, also für Juden, die aus Mittel- und Ost-Europa kamen. Es ist die zweite Synagoge, die in Venedig gebaut wurde, sofort nach der Großen Deutschen Synagoge, die aus dem Jahr 1528 stammt. Diese Synagoge ist bifokal. Was heißt das? Der Aron ha-Qodesch, also der Toraschrein, der unbedingt Richtung Jerusalem zeigen muss, steht der Bima, also der Kanzel, gegenüber."
Und über dem Eingang wurde ein Balkon errichtet, der mit vergoldeten Fensterläden abgeschirmt ist. Die Frauenempore. In der jüdischen Tradition ist bei Gottesdiensten Geschlechtertrennung vorgeschrieben. Die Männer können sich sonst nicht konzentrieren, scherzt Zanon.
Unten sitzen die Männer - auf dunklen Bänken, die an das Chorgestühl in alten Klosterkirchen erinnern. Besonders hell ist es in der Synagoge nicht, Tageslicht dringt nur aus einer kleinen Holzkuppel über der Kanzel in den Raum. Diese Mini-Synagoge ist vielleicht 50, 60 Quadratmeter groß. Ein kleines Juwel, das einzigartig ist in Europa. Denn acht bemalte Holztafeln mit Szenen aus dem Buch Exodus schmücken die Wände. Der Zug der Israeliten durch das Rote Meer. Das Manna, das vom Himmel regnet. Fast wie in einer Kirche. Ein für ein jüdisches Gotteshaus grenzwertiges Bildprogramm. Michela Zanon:
"Diese Bilder sind interessant, weil sie Landschaftsdarstellungen enthalten. Das ist nicht verboten, aber auch nicht leicht zu finden in Synagogen. Denn Bilder sollen nicht ablenken oder gar verbotene Dinge darstellen wie Tiere, Menschen. Ganz zu schweigen von der Darstellung des Herrn, das wäre undenkbar. Normalerweise werden Synagogen mit Blumen- oder geometrischen Mustern geschmückt. Hier haben wir dagegen diese Erzählung, die wunderschön ist."
Das Erbe des europäischen Judentums
In Venedig kann man in eine jüdische Welt eintauchen, die in weiten Teilen Europas längst untergegangen ist. Ausgelöscht von den Nationalsozialisten und ihren antisemitischen Vorläufern und Nachahmern. Umso wichtiger ist das Erbe des Ghettos von Venedig, um die Geschichte des europäischen Judentums zu erzählen. Die Geschichte der Sephardim, die aus Spanien und Portugal vertrieben wurden. Die Geschichte der Juden, die aus Deutschland flohen, wo sie zu Beginn des 16. Jahrhunderts in vielen Städten verfolgt und vertrieben wurden. Der Historiker Romedio Schmitz-Esser leitet das deutsche Studienzentrum in Venedig. Er sagt:
"Ein Beispiel wäre Nürnberg, wo man das jüdische Viertel zwischen den beiden großen Stadtteilen niedergerissen hat, um an dieser Stelle den großen Hauptplatz der Stadt zu bauen und an Stelle der Synagoge eine Marienkirche. Ähnliche Dinge passierten auch in Regensburg oder Wien und sind ein Zeichen dafür, dass die Toleranz überschaubar gewesen ist gegenüber den Juden."
Vor allem die Städte, die der Seerepublik auf dem Festland unterstanden - wie zum Beispiel Mestre, wurden zum bevorzugten Anlaufpunkt für verfolgte deutsche Juden. Auch für die Familie von Riccardo Calimani:
"Die Kalonymos waren im Rheinland eine wichtige Familie, einer von ihnen hat das Sefer Chassidim geschrieben, das Buch der Frommen. Als die Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Deutschland ausbrach - damals ist ein Drittel der europäischen Bevölkerung gestorben - sind die Juden vertrieben worden und nach Italien gegangen. Sie hatten sich von 1350 bis 1516 in Venetien angesiedelt und dann ist die Familie ins Ghetto gezogen."
Der unmittelbare Anlass für die Einrichtung eines exklusiv jüdischen Viertels war eine Niederlage, die die Seerepublik zu Land erlitten hat. 1509 hatte eine übermächtige Allianz aus deutschen, spanischen, französischen und päpstlichen Truppen das venezianische Heer besiegt - mit der Folge, dass Venedig Land und Städte in Norditalien aufgeben musste. Historiker Schmitz-Esser sagt:
"Es kam zu militärischen Eingriffen in den Festlandsbesitzungen. Und unter den Flüchtlingen, die da kamen, waren auch viele Juden, so dass man in der Stadt eine Situation hatte, in der auch Juden in Venedig lebten und man dafür eine Lösung suchte. Diese Lösung fand man mit dem Ghetto aus der Sicht der venezianischen Obrigkeit."
Am 29. März 1516 beschloss der Senat der Republik Venedig den Juden in der Stadt ein eigenes Quartier zuzuweisen, in dem sie geschützt und getrennt vom Rest der Bevölkerung leben konnten, leben mussten. Als Ort für diese Siedlung wurde eine Art Industriebrache am Stadtrand gefunden, keine bevorzugte Wohngegend, eine ehemalige Eisengießerei, die dem neuen Viertel auch den Namen gab. Schmitz-Esser:
"Für den Gießprozess gibt es das Wort 'getto', wo man das Eisen wirft und in diesem Sinne könnte aus 'getto' dann Ghetto geworden sein, was vielleicht auch ein Hinweis darauf ist, dass die ersten Bewohner einen leicht deutschen Zungenschlag hatten, der aus 'getto' Ghetto gemacht hat."
So betrachtet, beherbergt Venedig das erste Ghetto der Welt - auch wenn es schon vorher in anderen Städten Europas (beispielsweise in Frankfurt) ausschließlich jüdische Viertel gab. Nirgendwo wurde jedoch so minutiös geregelt, wie das Leben im Ghetto zu funktionieren hat. Es galt eine Ausgangssperre am Abend und an hohen christlichen Feiertagen wie Ostern. Die Juden Venedigs durften keinen Grund und Boden erwerben, waren immer Mieter und sie durften nur bestimmte Berufe ausüben, sagt Donatella Calabi, die die Geschichte des venezianischen Ghettos erforscht hat. Die Bewohner konnten als Ärzte, Buchdrucker oder Pfandleiher arbeiten.
"Die Juden hatten offiziell die Rolle inne, denen zu helfen, die Geld brauchten - den Armen liehen sie Geld für das alltägliche Leben, und noch öfter vergaben sie Kredite an Adlige und Reiche, die in Schwierigkeiten waren. Manchmal halfen sie auch der Republik Venedig, die in Krisenmomenten viel Bargeld brauchte. Sie waren für das Funktionieren der Republik also wichtig."
Venezianischer Pragmatismus und relative Toleranz
In Venedig gab es wie im Rest Europas Vorurteile gegen Juden, auch offenen Hass. Wenn sie ihre Toten aus dem Ghetto zum jüdischen Friedhof brachten, der auf dem Venedig vorgelagerten Lido liegt, mussten die Juden mit der Totengondel die Kanäle der Stadt passieren. Donatella Calabi:
"Wie es leider so oft in der Geschichte der Juden passiert ist, wurden sie beschimpft. Besonders im Viertel Castello. Wenn sie unter der Brücke von San Pietro di Castello durchfuhren, bewarfen die Kinder die Boote mit Steinen. Die Juden haben deshalb den Senat der Republik um Erlaubnis gebeten, auf ihre Kosten einen Kanal zu bauen, damit sie außen an den bewohnten Vierteln vorbeifahren konnten."
Immer wieder wurde im Rat der Stadt die Frage diskutiert, ob es opportun sei, Menschen eine Heimat zu geben, die man für 'Christusmörder' und 'Wucherer' hielt. Am Ende siegte immer der venezianische Pragmatismus.
"Der Rat berät 1525 darüber, ob man die Juden in Venedig halten oder ob man die Darlehen über die Pfandleihgeschäfte der Franziskaner abwickeln soll. Einige Adlige meinen, es sei viel besser, den Juden die Aufgabe der Pfandleihe anzuvertrauen. So könne man sich - ich übertreibe jetzt etwas - den Vatikan vom Leib halten", sagt Donatella Calabi.
Wer heute den Begriff Ghetto hört, denkt automatisch an Warschau oder die Ghettos unserer Tage, die No-Go-Areas in großen Städten. In jedem Fall ein Ort der Ausgrenzung. Das traf auch auf das venezianische Ghetto zu.
"Die Entscheidung, die Juden an einem geschlossenen Ort wohnen zu lassen, war ein Akt des Ausschlusses. Aber die Juden waren in der Lage wegen ihrer Handelsbeziehungen, wegen ihrer kulturellen Verbindungen, ein sehr viel weiteres Netz zu knüpfen. Zu allererst mit Venedig. Natürlich gab es restriktive und vor allem am Anfang sehr strenge Regeln. Aber zur Geschichte der Stadt gehören auch die Regelverstöße, der Regelbruch. Und das war hier der Fall."
Eigentlich mussten nachts im Ghetto Türen und Fenster, die nach außen, also nach Venedig zeigten, immer geschlossen bleiben. Doch schon sechs Monate nach der Gründung des Ghettos erhält ein Pfandleiher, der dem Dogen besonders nahestand, eine Ausnahmegenehmigung und damit einen direkten Zugang zum Kanal, über den er jederzeit das Ghetto verlassen konnte. Auch Ärzte durften zu jeder Tages- und Nachtzeit das Ghetto verlassen. Der Historiker Romedio Schmitz-Esser spricht deshalb vom Ghetto als einem Ort der "relativen Toleranz".
"Es gibt selbstsüchtige Ziele der Republik das einzurichten - zweifellos. Trotzdem gab es durch das Ghetto auch einen Ort, an dem man sein konnte - auch legitim sein konnte - als Jude, was damit eben auch ein Ort der Toleranz ist. Es ist schwierig, das nach unseren heutigen Maßstäben zu verstehen. Aber für eine Obrigkeit des 16. Jahrhunderts kann man den Begriff vielleicht sogar verwenden."
Riccardo Calimani, dessen Eltern noch im Ghetto von Venedig gelebt haben, hält solche Erklärungsversuche für die "Fantasie von Historikern".
"Es gab keine Toleranz. Es wurden lediglich die Vereinbarungen eingehalten, die nach sehr harten Verhandlungen zustande gekommen waren. Das war korrekt, aber nicht tolerant."
Heute ist das alte Ghetto beinahe ein Viertel wie jedes andere in Venedig. Einzigartig, wie alles in dieser Stadt. Auf dem großen Platz in der Mitte dieser Wohninsel, dem Campo del Ghetto, spielen Kinder. Und Touristen genießen die Frühlingssonne. Das Ghetto hat sich in den 500 Jahren seit seiner Gründung kaum verändert. Nur ein Wohnblock wurde abgerissen.
An seiner Stelle steht das "israelitische Altenheim", das von der kleinen jüdischen Gemeinde betrieben wird. Und im Sommer, wenn Gäste aus Israel und Amerika kommen und am Freitagabend den Gottesdienst besuchen, dann ist oft selbst die größte Synagoge des Ghettos, die Scola Spagnola, bis auf den letzten Platz gefüllt. Fast so wie früher.
Author: Samantha Robinson
Last Updated: 1703131922
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